Fernsehfriedhof

Der Fernsehfriedhof: Ein Bohlen ohne Biss

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Christian Richter erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 283: Ein trauriger Casting-Abklatsch vom ZDF, der beinahe alles falsch machte.

Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir eines weiteren verzweifelten Versuchs der öffentlich-rechtlichen Anbieter, das Privatfernsehen zu kopieren.

«Die deutsche Stimme» wurde am 30. August 2003 im ZDF geboren und entstand zu einer Zeit, als Markus Schächter nach langen Verhandlungen zum neuen Intendanten der Anstalt gewählt wurde. Als eine seiner ersten Amtshandlungen verkündete er, gegen den zu hohen Altersschnitt der ZDF-Zuschauer vorgehen zu wollen und verordnete dem eigenen Programm eine Verjüngungskur. Wie so oft im öffentlich-rechtlichen System drückte sich dieses Vorhaben darin aus, Personen und Ideen von der privaten Konkurrenz zu übernehmen. Zunächst warb er daher die Moderatorin Barbara Schöneberger für eine Late-Night namens «Die Schöneberger Show» ab. Parallel entging den Verantwortlichen nicht, dass sich im kommerziellen Fernsehen zu jener Zeit zahlreiche Castingformate großer Beliebtheit erfreuten und nach dem Erfolg von «Popstars» und «Deutschland sucht den Superstar» mit «Deine Band», «Teen Star», «Star Search» und «Fame Academy» ein wahrer Boom an Gesangs-Wettbewerben in Deutschland umherging.

Davon dass viele Branchenbeobachter bereits eine Übersättigung des Genres und eine baldige Ausdünnung der Vertreter prophezeiten, ließ sich das ZDF nicht abschrecken und beschloss bald, eine eigene Variante von der Firma Endemol umsetzen zu lassen. Das Ergebnis sollte sich allerdings insofern von den Rivalen unterscheiden, als dass die Kandidaten respektvoll behandelt und niemand lächerlich gemacht wurde, wodurch man sich absichtlich gegen «Deutschland sucht den Superstar» und dessen Hauptjuror Dieter Bohlen abzugrenzen versuchte. Außerdem sollte im ZDF ausschließlich deutsch gesungen werden. "Aber keine Volksmusik", betonte die zuständige Redakteurin Birgit Göller mehrfach. Vielmehr konzentrierte man sich auf Schlager-, Rock-, Pop- und HipHop-Hits aus den vergangenen 40 Jahren, weswegen Songs von Westernhagen, Xavier Naidoo, der Münchner Freiheit, Glashaus, Ben und Echt, aber auch von Jürgen Marcus, Katja Ebstein und Udo Jürgens vorgetragen wurden.

Darin lag letztlich das einzige Alleinstellungsmerkmal des Konzepts, denn der Ablauf erinnerte stark an denjenigen von «Deutschland sucht den Superstar», der nur mit einigen Komponenten aus anderen Versionen kombiniert war. Zunächst wurde zu einen allgemeinen Casting aufgerufen, für das sich ca. 3.500 Menschen bewarben. Die Redaktion wählte aus ihnen 1.200 aus, die wiederum zu den Vor-Castings in sechs deutschen Städten eingeladen wurden. Dort entschied eine Vorjury darüber, welche 70 Bewerber beim Haupt-Casting in Köln vor einer prominent besetzten Jury vorsingen durften. Diese wiederum schickte 21 von ihnen in einen Workshop für musikalische Weiterbildung, wo sie fachliche Unterstützung vom Sänger Heinz-Rudolf Kunze erfuhren, der aus heutiger Sicht als eine Art Coach fungierte. Die Idee eines Workshops basierte dabei offensichtlich auf «Popstars», während die Nutzung eines Coaches bereits bei «Fame Academy» durchgeführt wurde. Am Ende blieben neun Kandidaten übrig, die sich in sieben Live-Shows um die Gunst der Fernsehzuschauer duellierten und wöchentlich auf genügend Anrufe für einen Verbleib im Wettbewerb hofften. Für den Sieger stand ein Plattenvertrag mit der Firma Ariola in Aussicht. Das allzu vertraut wirkende Konzept rechtfertigte der ZDF-Pressesprecher Alexander Stork in einem Interview mit den Worten: „Man kann das Fernsehen nicht neu erfinden.“

Hinter dem Jurypult nahmen das ehemalige «Formel Eins»-Gesicht Stefanie Tücking, Soapstar- und Pop-Rapper Oliver Petszokat sowie die damals schon fast vergessene Rock-Sängerin Julia Neigel Platz. Als Chef-Juror trat außerdem der Schlager-Komponist Ralph Siegel auf, der zudem das Komponieren des Gewinner-Titels zusicherte. Er sollte damit eine ähnliche Funktion wie Dieter Bohlen übernehmen – nur ohne Beleidigungen und verbalen Entgleisungen. Das war daher spannend, weil Siegel seinen indirekten Kollegen Bohlen zuvor mehrfach für dessen Verhalten öffentlich kritisiert hatte.

Als Moderator führte Kai Böcking, der ebenfalls den Musikklassiker «Formel Eins» präsentiert hatte, durch die Episoden. Für das ZDF hatte er vorher außerdem die Quiz-Reihen «Risiko» und «Auge um Auge» geleitet, wobei letztere eine misslungene Reaktion auf den vorangegangenen Quiz-Boom darstellte. Unterstützung erfuhr er beim ZDF-Casting von Andrea Kiewel, die zunächst im «Sat.1 Frühstücksfernsehen», dann im dubiosen «Talk X» und darauf im «ZDF Fernsehgarten» zu sehen war.

Diesem Team oblag es nun, gegen die kommerziellen Ableger zu bestehen und junge Zuschauer zum Zweiten Deutschen Fernsehen zu locken. Ähnlich wie bei der ersten Staffel von «Deutschland sucht den Superstar» zeigte das ZDF die Höhepunkte aus den Castings am samstäglichen Vorabend um 18.00 Uhr, bevor die 90minütigen Live-Shows am Donnerstagabend um 20.15 Uhr ausgestrahlt wurden. Kurioserweise entschieden sich die Planer damit für ausgerechnet den Sendeplatz, der traditionell mit Volksmusik besetzt war – also jener Programmfarbe, von der man sich absichtlich abgrenzen wollte.

Die Urteile der damaligen Pressevertreter klangen flächendeckend ähnlich. Stets wurde die altbackene und allzu brave Ausrichtung kritisiert, die geradezu zu Langeweile geführt hätte. Dies bezog sich einerseits auf die blassen Moderatoren sowie auf die allzu homogene Qualität der Kandidaten, die laut SPIEGEL „Alle gleich gut, alle irgendwie normal“ waren. Weil die Jury obendrein nur lobende Worte fand sowie Hohn und Spott unterließ, wäre wenig übrig geblieben, das für Aufmerksamkeit sorgen konnte. Insbesondere an der schwachen Leistung von Ralph Siegel störte sich der SPIEGEL: „Er kam, schlief und verlor die Chance, Sympathiewerte im Volk und Quote für den Sender zu gewinnen. Der Siegel ist nämlich nicht so lustig wie der Dieter, kann nicht tanzen wie der D! und zu nett war er auch noch.“ Ein ähnliches Resultat ergab eine repräsentative Umfrage der Zeitschrift TV Today, bei der die Sendung bezüglich der Beliebtheit unter allen Casting-Varianten den vierten von fünf Plätzen einnahm.

Dass der Publikumszuspruch dann eher enttäuschend ausfiel, stellte angesichts dieser Einschätzungen keine große Überraschung dar. Die Sehbeteiligungen der großen Live-Ausgaben konnten am Donnerstagabend die Drei-Millionen-Grenze in der Regel nicht überschreiten. Lediglich das Finale erreichte mit 3,82 Millionen Zusehern eine mäßige Reichweite, die jedoch noch immer deutlich unter denen der Konkurrenz lag. Und nur an diesem Abend erzielte man in der anvisierten jungen Zielgruppe mit einem Marktanteil von 8,7 Prozent leicht überdurchschnittliche Werte. Entsprechend verhalten fiel das zugehörige Fazit der Verantwortlichen aus. So bezeichnete der ZDF-Showchef Manfred Teubner die letzte Episode als Höhepunkt eines "qualitativ überzeugenden und noch ausbaufähigen Programms".

Obwohl man bei der Konzeption offenbar eine jährliche Fortsetzung plante - schließlich gehörte das Jahr 2003 als fester Bestandteil zum Titel und Logo der Produktion - folgte keine weitere Staffel mehr. Wenigstens brachte sie ein gemeinsames Album der Teilnehmer hervor. Gänzlich verabschieden wollte sich der Kanal vom Gedanken eines eigenen TV-Castings dennoch nicht, weil man im Jahr 2008 mit «Musical Showstars» einen weiteren Versuch wagte, der ebenfalls misslang.

«Die deutsche Stimme» wurde am 30. Oktober 2003 beerdigt und erreichte ein Alter von elf Folgen. Die Show hinterließ den Moderator Kai Böcking, der danach hauptsächlich in verschiedenen Magazinen bei kabel eins und als Amateursportler in diversen ProSieben-Events zu sehen war, sowie seine Kollegin Andrea Kiewel, die wenig später mit «Kämpf um Deine Frau» durch eine weitere kopierte und fragwürdige Reihe führte. Übrigens, als Sieger ging seinerzeit der Kölner Eddie Leo Schruff hervor, der heute in kleineren Band spielt und kürzlich zugab, nicht wieder an einem öffentlichen Casting teilnehmen zu wollen. Ihm unterlag unter anderem der Bewerber Andreas Bourani, der im Jahr 2011 mit „Nur in meinem Kopf“ einen mittleren Hit landen konnte.

Möge die Show in Frieden ruhen!

Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am kommenden Donnerstag und widmet sich dann einem Quiz voller «Big Brother»-Kandidaten.

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